99.000 Luftballons

Goemon

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Korea ist nicht nur die Heimat der besten Starcraft-Spieler, sondern auch Schauplatz der imposantesten Trennungsaffäre seit dem Berliner Mauerbau. Nur wird hier nicht von Mauerschützen auf Republik-Flüchtlinge geschossen, sondern mit Haubitzen auf Dörfer. Seit letztem Jahr gibt es allerdings eine Feuerpause, weil sich die verfeindeten Staatsregime über eine gemeinsame Zukunft zu unterhalten begannen, wobei der ständige Lärm fliegenden Projektile, Raketen und Bomber als sehr lästig empfunden wurde. Wie das aber bei interregionalen Verhandlungen so ist, kam immer mal was dazwischen. Im Februar gebar Südkorea einen neuen Präsidenten, Lee Myung-bak, der sich leider noch nicht perfekt in seine Rolle als Friedensvermittler fügen konnte. Im August verschwand dann auch noch der nordische Oberkoreaner Kim Jong Il, was seitdem weltweit heftige Spekulationen über dessen Verbleib und Gesundheitszustand hervorrief.

Aktion und Reaktion
Unverantwortliche Akteure einer südkoreanischen Bürgerrechtsbewegung haben nun trotz wiederholter Warnungen seitens ihrer Regierung in Seoul erneut ein Informationsblatt veröffentlicht, welches sich mit den mutmaßlichen Krankheiten und Zukunftsaussichten von Jong Il beschäftigt. Um ihre nordkoreanischen Freunde nicht vom Informationsfluss ausschließen, banden sie rund 100.000 Flugblätter an Heliumballons und entsandten sie über die Grenze. Das Militär-Regime zeigte sich bestürzt ob dieser intensiven Dichte von Fehlinformationen, schließlich hat man bestimmt gute Gründe, um Aufenthaltsort und Zustand des mutmaßlich todkranken Machthabers zu verbergen. Die öffentliche Reaktion aus Pjöngjang fiel dementsprechend diplomatisch aus und entspricht in vollem Umfang dem unbeschreiblich einfühlsamen völkerrechtlichen Einfühlungsvermögen, welches sich der sonst nüchtern strukturierte Staat in direkter Folge seiner langjährigen Konfliktbetrachtungen mit den südländischen Nachbarn angeeignet hat: "Wir bekräftigen unsere Haltung, dass wir eine entschlossene praktische Aktion unternehmen werden, wenn das südkoreanische Marionettenregime weiterhin Flugschriften verbreitet und die Lügenkampagne mit reinen Fantasiegespinsten fortsetzt."

Um weiteren Missverständnissen vorzubeugen, wurde auch gleich verlautet, wie man sich derlei praktische Aktionen vorstellen könne: "Das Marionettenregime sollte sich klar darüber sein, dass unser progressiver Präventivschlag es nicht nur unter Feuer nehmen, sondern alles in Trümmer legen wird, was gegen unsere Nation und die Wiedervereinigung ist." Nun wissen wir dank Nina Hagen bereits zur Genüge, was eine Schar Luftballons alles anrichten kann. Ich sehe mich daher in der Pflicht, den Bürgerrechtlern dringend von weiteren Flugblättern abzuraten. Soviel Aufwand ist die Wiedervereinigung jahrzehntelang getrennter Familienverbände auch gar nicht wert, wie man hierzulande ebenfalls weiß. Im ersten Moment mag die Freude über Zusammenkunft, Reisefreiheit, Medienvielfalt, Verfügbarkeit internationaler Waren und Verbreitung selbst gestrickter Meinungen ja groß sein, mit der Zeit findet sich aber immer der eine oder andere Aspekt, den die feudale Militärjunta dem demokratischen Kapitalismus voraus hat.

Ein Konflikt ohne Lösung
Hier treffen zwei sehr unterschiedliche Welten aufeinander: der demokratische Süden hätte gern seinen Kontakt mit den nordischen Brüdern zurück, drängt also auf einen baldigen Zusammenschluss, wobei es auf das permanente Gewehr- und Raketen-Gefuchtel gern verzichten würde. Auf der anderen Seite der Grenze steht ein ebenso Kooperations-motiviertes Volk, dessen Führung allerdings im Falle eines Grenzverlustes seine Macht fast zur Gänze verlieren würde. Momentan bewachen ein paar tausend US-Soldaten die innerkoreanische Teilungslinie, aber dass jene nicht immer die gesamte Bandbreite diplomatischer Lösungen ausschöpfen, sollte inzwischen hinlänglich bekannt sein. Vielleicht befinde ich mich Kraft eigener Arroganz wieder einmal im Irrtum um die interkulturelle Völkerverständigung, aber Frieden wird nun doch eher selten durch Interkontinentalraketen erzeugt. Die Lösung des Problems ist mir so unbekannt wie die Lottoergebnisse der nächsten drei Wochen, aber ich tippe mal ganz frech auf "Dialog".
 
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