Bildung für Alle

Goemon

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Wenn man sich umhört wovor der Mensch im einzelnen so Angst hat, stößt man mitunter auf sehr seltsame Antworten. Dabei ist allerlei Getier mit zwei bis zweihundert Beinen, insbesondere wenn es über Haare oder Schuppen verfügt. Andere fürchten, ihr mühevoll erstellter Weblog könnte schlechte Bewertungen ernten oder bliebe gar unbeachtet. Manche haben Angst vor Sekten wie Scientology, andere nur vor Tom Cruise. Menschen fürchten sich vor Einsamkeit, Gesellschaft, Armut, Resident-Evil im Dunkeln zu spielen, Krankheiten, langen Namen, Wasser, Feuer, vor Rolltreppen oder Flugzeugen, Toastern, Geschirrspülern, Wascheimern, Schokolade mit nur 32% Kakaogehalt, Münzfernsprechern, Killerspielen, Nierensteinen (eigenen und gebraucht erworbenen), Ausländern, allem was klebt, Imageverlust, Immigranten, Überwachung, Anwälten, dem Gehaltscheck, dem anderen Geschlecht oder Sätzen mir mehr als vier Zeilen Länge. Einer meiner Neffen ängstigt sich vor Gewittern (was beim Alter von 14 Jahren meinerseits oft für Heiterkeit sorgt). Frank-Walter Steinmeier fürchtet den Dalai-Lama, Franz Müntefering fürchtet die Rückkehr von Kurt Beck, während Gerhard Schröder sich vor allen vier in Acht nimmt. Als neurale Steigerung hierzu gibt es dann noch ausgewachsene Phobien und Neurosen, aber die sind den phantasievolleren Menschen vorbehalten.

Die Angst geht um ? Angie hilf!
Eine Umfrage unter Durchschnittsdeutschen ergab, dass eine erschreckende Mehrheit Angst um den Bildungsstand hat, ihren eigenen oder den ihrer Kinder. Dem möchte unsere geschätzte Kanzlerin mit ihrem neuen Engagement gern abhelfen und rief gestern in Dresden zum großen Bildungskongress. Ein Treffen, das Antworten liefern sollte zu dringlichen Themen wie Schulschwänzer, Kinderbetreuung, weiterführende Schulen, internationalem Vergleich, Schulabbrecher, Fachkräftemangel und Studium. Ganze zwei Stunden wollte man sich der elitären Nachfrage um Aus-, Erst- und Weiterbildung widmen. Zwei Doppelstunden mit Pause, ähnlich jener Zeitspanne die meine Nichte jeden Mittwoch aufgrund von Lehrkräftemangel in der Schulbibliothek verbringt. Doch sprengte die umfassende Reformierung des Bildungssystems jeden vorsehbaren Rahmen und so musste man im Laufe der Veranstaltung auf ganze drei Stunden aufstocken, was vermutlich in heftigem Herumtelefonieren resultierte als die Minister und Präsidenten ihre Golfkurse und Massagestunden absagten. Gelohnt hat es sich auf jeden Fall. Zwar blieben die erwünschten Endergebnisse aus, doch haben die Staatsdiener endlich wieder einen ganzen Arbeitstag im Licht der Öffentlichkeit verbracht.

Umfassende Recherchen und Änderungen
Dass Frau Merkel das Thema Bildung zur Chefsache macht, ist schon mal sehr löblich, auch wenn die wichtigen Entscheidungen von den Kommunen getroffen werden, die gestern überhaupt nicht eingeladen wurden. Die kundige Frau hat im Rahmen ihrer "Qualifizierungsinitiative" im Vorfeld des Gipfels einige Bildungsstätten besucht und den so erworbenen Erfahrungsschatz in die Begegnung einfließen lassen. Die Botschaft war vermutlich irgendetwas in der Richtung "da müssen wa mal was tun", denn eigentlich gibt es keine konkreten Änderungen bis zur nächsten Bundestagswahl. Man hat jedoch deutlich klar gemacht, wie wichtig das Thema ist. Schließlich weiß das deutsche Ministerium sehr wohl, was Inkompetenz bedeutet, da sitzt man an der Quelle. Nur ist man aus dem derzeitigen Status heraus nicht unbedingt in der Lage, Umbrüche in positiver Richtungsentwicklung zu leisten. (Ein Teufelskreislauf!)

Heißt das jetzt ein weiteres Jahr Stillstand? Mitnichten! Beispielsweise konnte man sich einigen, die Zahl der Schul- und Ausbildungsabbrecher bis 2015 zu halbieren, was einer Senkung auf 4% bzw. 8,5% entspricht. Das schafft Hoffnung. Vielleicht setzt man sich bis dahin sogar noch ein weiteres Mal zusammen, um zu erörtern, wie man gedenkt dieses hehre Ziel zu erreichen. Obwohl, die nächste Koalition braucht auch noch Arbeit, es wäre ziemlich unfair ihnen alles weg zu diskutieren.

Krüppelkind Hochschule
Ein weiterer "Erfolg" ist die beschlossene Weiterführung des Hochschulpakts, der Exzellenzinitiative und des Paktes für Forschung und Innovation. Der Beschluss stand zwar schon im Juli fest, aber die Geste war zumindest in die korrekte Richtung getan. Was das ganze bringt, steht auf der Rückseite des Initiativebogens, wenn wir uns schon so großherzig für Recycling einsetzen. Als ehemaliger Student der Exzellenz-Universität FU Berlin kann ich bestätigen, dass unser Campus wirklich an Attraktivität gewonnen hat seit finanzielle Mittel zur Restaurierung der Wege und Grünflächen bereitgestellt wurden. Wenn man jetzt in Lankwitz zwischen den Häusern wandelt denkt man nicht mehr permanent an all die fehlenden Lehrkörper, das veraltete Equipment, die geschlossenen Fachbereiche, die mit Quotenkräften besetzte Bibliothek oder die mangelnden Zukunftsaussichten aufgrund mangelhaften Studienangebots, sondern man erfreut sich der hübschen Parkbänke am ausgetrockneten Teich, da man weiß: diesem Tümpel geht es noch schlechter als mir. Er kann nicht auswandern.

Ich will gar nicht ins Detail gehen, aber wenn an einem paleontologischen Institut fast ausschließlich mit rezentem und semi-fossilem Material gearbeitet wird, fehlt mir persönlich der Bezug zum Thema. Wessen akademischer Stand nicht ganz mithalten kann stelle sich der Einfachheit halber vor, an einer Akademie für Spieldesign würde die Programmierung von Tetris für Wii und PC gelehrt. Die Aussichten einer erfolgreichen Bewerbung bei EA oder Blizzard dürften mit diesem Werdegang ganz ordentlich sein, zumindest als Kaffeebecherhalter oder Tütenträger. Dafür reicht der Master-Abschluss!

Problemzone Geld
Die letzte und erstaunlichste Neuerung im Qualifizierungs-Sektor ist die Entscheidung, finanzielle Ausgaben für Bildung und Forschung bis 2015 auf 10% des Bruttoinlandsprodukts anzuheben. Kritiker mögen behaupten dieser Beschluss sei ebenfalls etwas älter als die Finanzmarktkrise, übersehen dabei aber den aktuellen Bezug zur hierarchischen Neuorientierung der interkontinentalen Wissenschaftsstruktur subkultureller Dekadenz. Oder so ähnlich. Aus welcher Richtung uns die 300 Milliarden Euro entgegen fließen, klärt in den kommenden Jahren eine bislang unbekannte Arbeitsgruppe. Jene ist wahrscheinlich selbst am meisten auf ihre Ergebnisse gespannt.

Um die Gesellschaft nicht der kompletten Spannung und somit Aufmerksamkeitsspanne zu berauben, behielt sich der große Bildungsgipfel eine Fragestellung für zukünftige Sitzungen offen: Der Verbleib der demographischen Rendite. Was für ein schöner Begriff. Demographische Rendite. Das klingt, als könne man aus der Entwicklung unserer Bevölkerungsgruppen irgendeine Form des Kapitals schlagen. Und tatsächlich geht es um Geld das in den nächsten Jahren übrig bleibt, weil die Schülerzahlen Geburtsbedingt sinken. Ob dieses Geld weiterhin dem Bildungsfond zur Verfügung steht, wird man erst entscheiden wenn es endlich da ist, aber ich prognostiziere hier einfach mal ein dickes "Nein" vom jeweiligen Finanzminister. Einfach aus Trotz.

Und nu?
Was vom Tage übrig bleibt, ist eine Ansammlung von längst beschlossenen Vereinbarungen. Immerhin konnten sich die Verantwortlichen mal in geselliger Runde treffen und so gewichtige Wörter austauschen wie Bildungsstandards, Leistungsvergleich, Begabtenförderung, Fachkräftemangel und Sprachförderung. Ein interregionaler Gedankenaustausch ohne Gleichen, der Kanzlerin Merkel deutlich aus der Masse ihrer Schaumschläger-Kollegen heraus hebt. Angie hat nämlich richtig tolle Verbesserungsvorschläge anhören lassen.

Einen bescheidenen Beitrag zum Fachkräftemangel kann ich sogar höchst selbst liefern. Mein Diplomzeugnis sagt immerhin "cum laude", also jetzt nicht wirklich auf akustischem Wege, aber derartiges steht immerhin drauf. Trotzdem bin ich ein arbeitsloser Akademiker. Denn alle Jobangebote in dem von mir bewohnten Forschungszweig erfordern entweder eine Promotion (deren Finanzierung ein wenig kompliziert ist und stark von den Arbeitsgebieten potenzieller Betreuer abhängt, siehe oben) oder mehrjährige Berufserfahrung. Nur wie erarbeite ich mir Erfahrung, wenn mich ohne selbige niemand einstellt? Klar, ich gehe ins Ausland. Und wenn ich dort eine relativ feste Anstellung erhalte, mit potenzieller Übernahme auf Lebenszeit und ordentlicher Pension, welchen Anreiz habe ich dann, in die Festung der Bürokratie zurückzukehren? Insbesondere, wenn jedes außereuropäische Jahr von meiner Rentenleistung abgezogen wird und ich mich nach meiner Rückkehr privat Krankenversichern muss, weil ich nicht mehr als Deutscher gelte?! Warum kommt ein Akademiker nach Deutschland, wenn ihm die Welt offen steht? Des Bieres wegen?

Der nächste Gipfel kommt bestimmt, vielleicht sogar mit noch konkreteren Ergebnissen. Meine Nichte hat übrigens kommenden Mittwoch wieder drei Freistunden, wobei sie neuen Nutzungskonzeptionen gegenüber offen ist.
 
Der große Merkel-Spruch "Wir müssen eine gemeinsame Lösung finden" gewinnt langsam Zuneigung. Nach dem Bildungsgipfel waren alle Teilnehmer gaz doll zufrieden mit sich, ohne Ergebnisse zeigen zu können. Jeder sagt der charismatischen Kanzlerin Hilfe zu, aber bislang ist nix angekommen. Ich bezweifle, dass sich das in China ändern wird.

Tja, Asien ist ein schwieriges Thema. 80% Armut, in jeder Großstadt verhungern Menschen am Straßenrand und die Regierung schießt ihr Geld auf den Mond. Einerseits ist es nett, wie die Welt zusammenwächst, aber derzeit fehlt mir die mitwachsende Sozialkomponente. Wenn das so weitergeht, haben wir in 20 Jahren nur noch asiatische Spitzenkräfte, deutsche Sozialhilfeempfänger und osteuropäische Gastarbeiter. Weil Qualifizierung im Ausland stattfindet und die entsprechend Gelehrigen dort bleiben.

PS.: Vielleicht sollte ich mich Hauptmann-mäßig irgendwo rein mogeln, dazu fehlt mir momentan allerdings die Dreistigkeit. Na, die kommt mit dem Alter, siehe deutsches Politikum. Ich bin zuversichtlich.
 
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