Aus der Asche der Sünde

Chyperphunker

Erfahrener Benutzer
Mitglied seit
07.09.2010
Beiträge
156
Reaktionspunkte
10
Die Telefonzelle, in der ich stehe, ist alt. Ihr ehemals gelb leuchtendes Äußeres hat witterungsbedingt den Ton von matter Wandfarbe angenommen. Auf die Rückwand im Inneren hat jemand mit Filzstift geschrieben, dass Klara eine alte Schlampe ist. Die Graffitis an der wackligen Eingangstür machen keinen besseren Eindruck. Untalentierte Schmierereien, welche nur von der eingeschlagenen Seitenscheibe in ihrer deprimierenden Ausstrahlung übertroffen werden. Die gleichmäßig gebrochenen Stücke Sicherheitsglas, auf denen ich stehe, bestrafen jede noch so kleine Bewegung mit einem unangenehm kratzenden Geräusch. Das Licht in der Zelle ist kalt und steril.

Ich ziehe mein Portemonnaie aus meiner Handtasche und lege es auf den Telefonkasten vor mir. Mit meinem Zeigefinger beginne ich, das Kleingeld darin zu zählen. Zwischen den schmierigen und goldschimmernden Münzen liegen verstreut einzelne Fussel, kleine Dreckklumpen sowie ein sorgfältig zusammengefalteter Zettel. Seine Ränder sind vom Dreck leicht schwarz gefärbt.

"Zwanzig, vierzig, sechzig."

Reicht für etwas über eine Minute. Angefangen bei der kurzen Begrüßung und der Entschuldigung, dass ich gleich weiter muss, fange ich direkt mit der Begründung an, warum ich seit unserem letzten Treffen wie vom Erdboden verschwunden war.

Ich werde dir erzählen, dass ich gerade von einer längeren Reise durch die Türkei anrufe. Eine dreiste Lüge. Um diese vor mir selbst schön zu reden, hake ich sie insgeheim als einer meiner "Storys" ab. Das sind Notlügen, mit denen ich mein selbst als langweilig empfundenes Leben nach außen hin aufpeppe aber manchmal auch versuche, Dinge geradezubiegen.

Sorgfältig und mit jeder Menge Details werde ich ein Bild in deinem Kopf entstehen lassen, welches ich selbst nur von Postkarten kenne. Stelle dir einen belebten Urlaubsstrand an einem heißen, wolkenlosen Tag vor. Das Meer rollt in schäumenden Wellen an die Küste. Kinder spielen sorgenfrei im knietiefen Wasser, wohingegen die etwas Älteren die Sonne auf einer Luftmatratze genießen. Die Szenerie ist erfüllt von sich überlagernden Gesprächen freudiger Touristen, sich lautstark vergnügender Kids und dem städtischen Treiben strandnaher Hotels. "Wie in der Karibik", werde ich sagen. Langsam schweift mein Blick durch die schmierige Telefonzelle. "Wie in der Karibik", denke ich laut und ironisch vor mich hin. In Wirklichkeit bin ich aber nur selten aus dieser verdammten Stadt heraus gekommen.

In Gedanken lasse ich das Ende unseres letzten Treffens Revue passieren. Ich habe es noch genau vor Augen. Kurz nachdem du beleidigt warst, weil ich unser gemeinsames Streifen durch das städtische Nachtleben so schlagartig beendete, stiegst du mit abwesender Miene und nur einer beiläufigen Verabschiedung in deine S-Bahn. Traurig stieg ich darauf in meine. Ich verstand, dass mein plötzliches Abschließen des Abends auf dich wie ein Wegschicken gewirkt haben muss. Doch was sollte ich anderes tun? Mit zu mir konnte ich dich diesmal nicht nehmen. Den wahren Grund dafür wirst du hoffentlich nie erfahren. Für ein Hotel wiederum fehlte uns wie so oft das Geld und selbst wohntest du so weit weg, dass uns die Fahrt bis zu dir ebenso die Nacht geraubt hätte. Kurz darauf bekam ich eine Nachricht von dir auf meinen Pager. Du schriebst mir, dass wir so nicht auseinander gehen sollten. Einen Augenschlag später waren wir wieder am Ausgangspunkt unseres schmerzlichen Abschiedes ? dem Bahnhof. Ich bin mit hängenden Schultern aus dem Waggon gestiegen und suchte dich mit einem traurig verstörten Blick. Als ich dich entdeckte, bist du gerade langsamen Schrittes die Treppen vom gegenüberliegenden Gleis hinaufgestiegen. Dein Anblick ließ in mir ein Gefühl der Wärme aufsteigen. Ich war gespannt, was du nun zu mir sagen würdest. Doch du entschiedst dich dagegen, überhaupt etwas zu sagen, liefst direkt auf mich zu und warfst deinen Rucksack auf die kalten Pflastersteine. Deine großen, für einen Mann gut gepflegten Hände nahmen meinen Kopf und zogen ihn kräftig zu dir heran. Du hast mich noch nie so geküsst, wie du es in diesem Moment getan hast. Unbewusst ließ ich meine Augen länger als sonst geschlossen, als wir unsere vor prickelnder Leidenschaft betäubten Gesichter voneinander lösten. Uns gegenseitig in die Augen schauend, ließen wir die Wirkung des Kusses noch einen Atemzug verweilen.

Das hörbare Heranschreiten einer Person hinter mir lässt mich aus meinem angenehmen Tagtraum erwachen und holt mich zurück in die Realität. Zurück in die Realität, in der ich in einer versifften Telefonzelle stehe und im Begriff bin, eine erkaltete Affäre wieder aufglühen zu lassen.

Viele Wochen sind seit unserem letzten Treffen vergangen. Zeit genug, um mir meiner ursprünglichen Motivation, einer emotional leeren Ehe zu entfliehen, wieder bewusst zu werden. Doch auch Zeit genug, um meine Angst, unser Abenteuer könnte zu heiß werden, zu verdrängen. Mein Blick fällt auf den goldenen Ring an meiner rechten Hand. Zum Glück ist dir die helle Stelle an meinem Ringfinger nie aufgefallen und wenn doch, dann hast du es gut überspielt.

Den Grund, warum ich dich auch diesmal über die wahren Hintergründe meiner persönlichen Umstände im Unklaren lassen werde, kenne ich nicht. Ebenso wenig den Grund, warum ich zwanghaft an einer gescheiterten Ehe festhalte. Ich weiß nur eins, dass ich jetzt diesen Telefonhörer vor mir in die Hand nehmen werde, deine Nummer wähle und gucke, was passiert.

Ein tiefer Atemzug gibt mir die Ruhe die ich brauche, um den Apparat abzuheben. Die Hörmuschel ist an einer Stelle geschmolzen und mit Ruß belegt. Den gefalteten Zettel aus meinem Portemonnaie nehme ich an mich. Für einen Moment verweile ich mit dem Zettel in der einen und dem angekokelten Hörer in der anderen Hand. Ich starre vor mir ins Leere. Als ich drohe, in einer von negativen Gefühlen angekündigten Grübelei zu versinken, ersticke ich jede noch so kleine Regung meines Denkens im Keim. Langsam und konzentriert tippe ich deine Telefonnummer von dem Papier ab.

Es kommt mit vor wie eine Ewigkeit, bis der Moment der Stille dem ersten Freizeichen weicht. Es klingelt erneut sowie ein drittes Mal. Als ich schon mit einer kurzzeitigen Erlösung von der mich beherrschenden Anspannung rechne, wird plötzlich mit einem Klacken am anderen Ende der Leitung abgenommen.

Ein weiterer ewig scheinender Moment der Stille folgt. Von der vergessenen Wirkung deiner Stimme auf mich den Hörer anlächelnd, erwidere ich dein kurzes "Hallo".
 
... Kurzgeschichten gegen die Langeweile 2 ;)

Kritik, Lob und Verbesserungsvorschläge erwünscht.
Viel Spaß beim Lesen.
Gruß Michel
 
Nicht, dass ich gerade Langeweile gehabt hätte. Ich war schlicht neugierig.

Und ja, was sich beim Begriff "Handtasche" schon als mögliches Szenario anbahnte, wurde später zur Gewissheit: diesmal hast du aus der Perspektive einer Frau geschrieben! ;-D

Das Ende war immerhin weniger offen, als ich es von dir mittlerweile erwartet hätte.
Wobei es mir ohne den letzten Absatz sogar etwas besser gefallen hätte.
Nicht so wild, aber ich will es als aufmerksamer Leser erwähnt haben:
Absatz 5, Zeile 2
"einer meine ?Storys?" müsste grammatikalisch korrekt "eine meiner "Storys"" lauten.

Gruß
Billy
 
Danke für das Feedback, Billy .

Den Tippfehler habe ich sogleich ausgebessert.

Gruß
 
Mir hat deine Kurzgeschichte sehr gut gefallen. Die Telefonzelle in ihrer Beschreibung löste ein wunderbares Gefühl der Enge in mir aus. Aus die Melancholie die sich während des Lesens abzeichnet war sehr gut.
Daumen hoch.
 
Zurück