"Das gute Buch zur späten Stunde"

M

mayaku

Gast
"SnowCrash" von Neal Stephenson

Plötzlich werden sie von einem Suchscheinwerfer festgenagelt, der so groß und grell
ist, dass man nicht einmal in seine Nähe sehen kann.
Dann wird es wieder dunkel,und ein Schuss aus Vics Gewehr hallt über das Wasser.
"Guter Schuss, Vic", sagt Fischauge.
"Wieder eines dieser Drogendealerboote", sagt Vic, der durch sein Zaubersichtgerät
sieht.
"Fünf Mann. Kommen in unsere Richtung."
Er feuert noch einen Schuss ab.
"Korrektur, vier Mann." Bumm.
"Korrektur, sie kommen nicht mehr in unsere Richtung." Bumm.
Sechzig Meter entfernt erblüht ein Feuerball über dem Meer.
"Korrektur. Kein Boot."


Eine Szene wie aus einem Film.
Das dachte ich zumindest, als ich diese Stelle im Roman das erste mal las.
Was habe ich gelacht, wie trocken kam das rüber.

Aber egal, nicht nur gelacht wird in "SnowCrash", es gibt auch genug sozialkritische Tendenzen und tolle Ideen.

"Fakten aus einem Dampf von Nuancen kondensieren."


Eine geniale Formulierung wie ich finde. Es geht darum, dass jemand die Fähigkeit hat aus dem Gesichtsausdruck, den Bewegungen Rückschlüsse auf das Befinden oder Empfinden einer Person zu ziehen.

In diesem Fall geht es darum, dass die Großmutter einer Frau nur durch drei Sätze der Enkelin und ein paar Blicke in ihr Gesicht sieht, dass die junge Frau schwanger ist.
Der Witz an dieser Frau ist, dass sie eine Figur aus einem Buch geht, dass als Inspiration für die Macher von Second Life gilt (Beleidigung für das Buch ) und hier in diesem Buch wurde auch das erste Mal der Begriff "Avatar" als Bezeichnung für ein grafisches Computeralias eines Users verwendet.
Die junge Frau, Juanita, arbeitet an den Gesichtern der Avatare. Sie und ihre Hacker-Freunde entwickelt die Software für die 3D-Avatare der "Straße", was das Internet in der Realität dieses Romanes darstellt.
Second Life ist die popelige Kindergartenversion dieser "Straße" und die Avatare dort nur peinlich pixelige Abklatsche der Avatare aus dem Roman.
Die Hacker-Kumpels konzentrieren sich auf die Kollisionsabfragen, Körper und sonstige Aspekte der Software, aber Juanita will möglichst gute Gesichter bauen.
Warum sie das will, kann sie ihren Kollegen klar machen, wenn sie diese Geschichte von ihrer Großmutter erzählt, die ihr eben alles aus dem Gesicht ablesen konnte.

In der Gegenwart des Romanes ist diese Software fertig und vor allem japanische Geschäftsleute nutzen sie, wenn sie online Tacheles reden wollen.
Das können sie auch, was eigentlich nur an Juanita und ihren Gesichtern liegt.

Nie wird einem in der Realität so klar, wie wichtig Gesichter sind bzw. Gesichtsausdrücke und Körpersprache, wenn man sich mit Leuten oft in Ventrilo, Skype oder TS unterhält oder gar nur das, was sie einem sagen wollen, in einen Chat lesen kann.
Würde man nicht inflationär oft Smileys benutzen oder höflicher sein als im wahren Leben, die anderen hielten einen für einen Grobian.
Wie schnell etwas falsch verstanden werden kann, wenn man sein Gegenüber nicht vor sich hat, fällt einem nie so deutlich auf, wie beim zwischenmenschlichen Kontakt im WWW.

In SnowCrash wird daraufhin gewiesen, auch wenn es bei weitem nicht das einzige Thema des Romanes ist.

Es geht auch um neurolinguistische Programmierung, den urbanen Moloch in den sich die Großstädte der Welt verwandeln und die Möglichkeiten der Neuregulierung der entstehenden und schon vorhandenen Gruppen und sozialen Netzwerke.
Die Idee der "Burbklaven" die eine Art franchise gesteuertes Wohnmodell darstellen und von den unterschiedlichsten Autoritäten geleitet werden. So gibt es die Viertel der (italienischen) Mafia, der chinesischen Kapitalisten aus Hong Kong, mit Drogen handelnden Kolumbianer bis hin zu Neusüdafrikanischen Einrichtungen als Traum aller Neonazis.

Die Staatsbürgerschaft ist, soweit man den Aufnahmekriterien entspricht, mit einer einfach zu begleichenden Aufnahmegebühr zu kaufen. Genauso bieten die ausgeflipptesten Kirchen ("Wie die USA vor dem Kommunismus bewahrt wurden: Elvis erschoss JFK!") gegen Gebühr einen Generalablass. Natürlich alles 24/7 und per Kreditkarte, denn der Dollar ist nach einer Hyperinflation bestenfalls noch als Klopapier zu gebrauchen.

Von den ehemaligen USA sind generell nur noch Reste übrige geblieben und die CIA und die Kongressbibliothek haben fusioniert und bieten Tonnen von Informationen über alles und jeden an, solange nur der Preis stimmt.
Im Roman folgt man dem Weg des Hackers und Schwertkämpfers Hiro Protagonist, der zuerst als Pizza-Bote für die Mafia arbeitet, seinen Job jedoch schnell los wird, als er sein Dienstfahrzeug in einem leeren Pool versenkt. Er begegnet einem aleutischen Souveränen mit einer Atombombe im Sozius seines Motorrades, einer ultra-katholischen Hackerin und den üblichen Verrückten der etwas merkwürdig anmutenden Zukunftsvision Stephensons.

Beim ersten Lesen fiel es mir schwer mich in diesem Universum zurecht zu finden, danach war allerdings die Faszination da und auch oft das Gelächter groß. Meine Ausgabe von "SnowCrash" ist mittlerweile ziemlich zerfrleddert und ich zähle den Roman zu meinen absoluten Lieblingen.
...und noch ein Buch hinterher:

Da mir das letzte Buch von Gibson, "Spook Country", leider überhaupt nicht gefallen hat, werde ich jetzt einfach mal von meinem Liebling, "Futurematic" erzählen.

Dieses Buch ist der absolute Hammer, vor allem, wenn es einem ein bisschen dreckig geht und man irgendwie ein wenig traurig ist, denn es verwandelt diese Gefühle in eine sanfte Melancholie.

ich besitze die gebundene Version mit Lesebändchen von zweitausendeins, die einem das Gefühl gibt, ein richtig besonderes Buch in Händen zu halten und die Übersetzung ist wunderbar gelungen.
Vielleicht trägt das zum wohligen Lesegefühl bei, aber dieses Buch wäre auch als abgelutschtes Taschenbuch einfach nur wundervoll.

Auf deutsch gefällt mir die Geschichte um Laney, den Netzläufer, Rydell, den vierschrötigen Ex-Cop, Chevette, die Fahrradkurrierin, Rei Toei, der absolut künstlichen Frau und dem namenlosen Killer mit den philosophischen Nachtgedanken viel besser als im Original.
Deutsch kann eine sehr tragende poetische Sprache sein und bei "Futurematic" wird das von den Übersetzern ausgenutzt.
Gibson hat das sprachliche Können, die Übersetzer das Gefühl für die angemessene Übertragung in die andere Sprache und das merkt man und das macht Spaß.

Wenn Rydell seine große Liebe wieder trifft und man als Leser seine Gedanken mitlesen kann und aber auch liest, wie er sie seiner Liebe nicht offenbaren kann, dann haut das sogar gefühlsschwache Leser aus den Socken, obwohl diese Stelle fast untergeht in all der Action um die Verfolgungsjagd, die irgendwann auf der Golden Gate Bridge tobt.

Alle Momente von großer Bedeutung für die Handlung sind, wenn es um die Gefühle oder Gedanken der Protagonisten geht, zart und dennoch unglaublich stark in der Aussage.
Wenn der namenlose Killer seinem Tao folgt und seine Philosophie angedeutet wird, dass er im Jetzt lebt und versucht Dinge zu tun, die im richtig erscheinen, dann mag das zuerst etwas komisch wirken, aber wenn man erkennt, wie wichtig selbst die Kleinigkeit einer verschenkten Uhr innerhalb der Geschichte wird, dann kann man verstehen, dass alles zusammenhängt, alles im Fluss ist und das Tao nach Ausgleich strebt.

Die Abschnitte in denn Laney in seinem Pappkarton nach diesem einen Typen im Netz jagt überspringe ich fast vollständig. Nur wenn er sich mit den Hackern der Ummauerten Stadt trifft lese ich sie.
Diese Hacker und ihre Stadt treten auch sehr interessant in Erscheinung. Sie sind Hacker, die eine Stadt, die Ummauerte Stadt im Internet gegründet haben und diese "von innen nach außen gestülpt haben und dann darin verschwanden".

Es ist ein Rückzugsort für Hacker, die immer unter einer "Bitfäule" leidet, wie Gibson es beschreibt.
Die gekonnte Hässlichkeit als Beweis der eigenen Programmierfähigkeiten.
Schöne Avatare im Cyberspace sind nur etwas für kleine Mädchen, die Hacker erscheinen als Luftwirbel, Plüschkatze mit fehlenden Augen und Gliedmaßen oder als einfacher Mann im schwarzen Anzug.

"Rydell dachte an Klaus und den Hahn und beschloss, erst einmal nach der Thermoskanne zu suchen."

Klaus und der Hahn sind die Hacker, die scheinbar das Sagen in der Stadt haben. Naja, zumindest Klaus, der Hahn scheint eher schmückendes Beiwerk mit großer Klappe zu sein.
Sie befehligen die hackenden Armeen der Ummauerten Stadt, die Laney helfen die Welt vor einem unglaublichen Umbruch zu bewahren.

Um das zu bewerkstelligen müssen viele kleine Dinge passieren und viele Menschen an bestimmten Orten erscheinen.
Gibson verwebt die Geschichten von Rydell, der mit einem saufenden Countrysänger namens Creedmore nach San Francisco kommt, um für Laney "der Mann vor Ort" zu sein mit den Geschichten des Ladenbesitzers Fontaine, des armen stummen Jungen Silencio und all der anderen Figuren, die auftauchen und irgendwie irgendetwas mit der Golden Gate Bridge zu tun haben.

In "Futurematic" ist die Golden Gate Bridge nicht einfach nur eine Brücke. Vor vielen Jahren wurde sie von Obdachlosen und Protestlern gestürmt und ist seitdem besetzt.
Die Menschen dort haben sich eine kleine Stadt auf der Brücke aufgebaut, es gibt Läden, Restaurants und kleine Wohnungen.
Hier kommt es auch zum "Showdown" des ganzen...dort und natürlich im Cyberspace.
 
HAHA, ich wusste, dass Du das kapierst!! Das gibt 100 gummige maya-Punkte!

P.s.: Soll ja auch ein Zitat sein, drum die "" :D

P.p.s: Danke
 
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