Der Praktikant und das Mehr

Alexander Tinius

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15.12.2008
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Alles beginnt an einem kalten Donnerstagmorgen. Gegen 3:15 weckt mich mein Papi pflichtbewusst mit umfassenden Räumungsarbeiten in unmittelbarer Nähe des Herdes. Direkt neben der Küche zu wohnen hat eben so seine Tücken? "Du hättest doch noch eine Viertelstunde schlafen können", sagt er, als ich die Tür zu meinem Zimmer öffne und meinen Körper im Halbschlaf dem Abort entgegen schiebe. Ich versuche zu entscheiden, ob ich lieber lachen, weinen oder fluchen sollte, aber selbst hierfür bin ich zu müde.

Zehn Minuten später steht das Frühstück warm und dampfend auf dem Tisch und ich mache mich an die erste Nahrungsaufnahme des entsetzlich jungen Tages. Während mein Vater wieder schlafen geht, wasche ich mir den Schlaf aus dem Gesicht und begebe mich erfrischt und gestärkt auf die beschwerliche Reise gen Bahnhof.

Abfahrt!
Der Zug ist erstaunlich voll. Ich hätte nicht gedacht, dass gut fünfzig weitere Verrückte ebenfalls um diese Uhrzeit Bahn fahren wollen. Trotzdem lässt sich die ganze Fahrt über kein Zugbegleiter blicken, was mir den Weg nach Berlin erheblich verbilligt. Es war nämlich unmöglich über die automatisierte Fahrkartenbestellung der Deutschen Bahn eine Reise von daheim nach Bayern zu buchen, sodass ich mich erst einmal eine Dreiviertelstunde lang als Schwarzfahrer amüsieren muss.

Anschlussreisender
Am Berliner Hauptbahnhof angekommen, suche ich nach näheren Informationen zum Anschlusszug, da meine Fahrkarte derlei Berichterstattung vorenthält. Jedoch ist mein IC nirgendwo zu finden. Ein ICE mit ähnlichem Fahrtziel fährt zeitnah von Gleis 4, wird allerdings mehrmals lautstark gecancelt. Zum Glück bin ich nicht der einzige Leidtragende. Ein Heer von Reisenden steht an den Informationsfernsprechern und verlangt Auskunft über den Verbleib des Massentransporters. Durch unsere Interessenbekundung beflügelt, lassen sich die Verantwortlichen eine gemeingültige Ansage abringen: der auf meinem Zettel vermerkte IC dient als Ersatz für den nicht fahrenden ICE. Erleichterung macht sich breit. Der Zug kommt also später, fährt langsamer, bringt uns jedoch ans Ziel. Puh!

Im IC sitzend versuche ich den Schlaf vergangener Tage nachzuholen. Vergebens! Ich bin so aufgeregt, dass ich die Augen trotz Müdigkeit nicht schließen kann. Schließlich habe ich heute ein wichtiges Vorstellungsgespräch. Eine Verabredung mit zukünftigen Projektleitern und potenziellen Arbeitgebern. Und obwohl ich Diplomakademiker bin und das angestrebte Aufgabenfeld nicht das Geringste mit meinem Fachgebiet zu tun hat, freue ich mich gar fürchterlich.

Guten Morgen Fürth
Mit nur einer halben Stunde Verspätung erreiche ich den Fürther Hauptbahnhof. Es ist 10:59 Uhr da mein Termin erst für 14 Uhr angesetzt ist, entscheide ich mich für einen kleinen Rundgang, eine touristische Besichtigungstour. Bin mal gespannt, was die Heimatstadt des deutschen Gamer-Journalismus so zu bieten hat?

Als erste Attraktion präsentiert sich mir ein sehr abgewrackter Hauptbahnhof. Ich bin weit gereist und habe viel gesehen, aber ein derart heruntergekommener Bahnhof ist mir selten begegnet. Bloß gut, dass ich bereits eine Rundfahrkarte besitze, ich würde lieber laufen als an diesen klebrigen, verschmierten Automaten ein Ticket zu lösen, geschweige denn eines zu kaufen. An mindestens zwei Stellen hat jemand seine angedaute Mahlzeit über den Bahnsteigboden ergossen und weder Geruch noch Bildnis lassen eine eindeutige Zuordnung zu frontalem oder rektalem Nahrungsausgang zu. Zigarettenkippen liegen praktisch alle paar Meter herum und auch insgesamt macht der Bahnhof einen so schlechten Eindruck, dass sich nicht einmal Obdachlose hier aufhalten mögen.

Erschreckendes Stadtbild
Da dieser Ort meines Verbleibs gänzlich unwürdig ist, fahre ich ein wenig zwischen den U-Bahnhöfen herum und sammle Eindrücke. Jene sind schnell zusammengefasst: die Bahnhöfe Fürths sind steril, wenn sie nicht gerade dreckig sind und die Fassaden der Hochhauspassagen sind genauso langweilig anzuschauen wie die Frontale unserer Kanzlerin. Eigentlich wollte ich ja zum Fossilienmuseum im Norden Fürths fahren, aber der Bus dort hin verkehrt nur alle halbe Stunde, was eine pünktliche An- und Abfahrt erschwert. Also steige ich am Rathaus aus und schlendere durch die Fürther Altstadt. Das lenkt mich ein bisschen ab und ist auch ganz interessant. Wie jede andere deutsche Stadt auch besteht der Kern Fürths aus hübschen Altbauten, verwinkelten Gassen und Fußgängerzonen. Und inmitten der schönen, vielfältigen, altertümlich angehauchten Häuser steht ein großer, hässlicher, gläserner, das Gesamtbild völlig ruinierender Klotz aus Metall, Beton und Glasfassade. Ja genau, das ist die Sparkasse. Kaum eine deutsche Bankengesellschaft hat soviel Gespür für Städtebild-zerstörende Hässlichkeit wie die Sparkasse. Scheinbar gibt es irgendwo in diesem Land einen mental verschatteten Architekten ohne Gespür für Schönheit oder Eleganz, der in einem Anfall zeichnerischen Größenwahns eine Gruppe von Zeichnungen fertigte, die nun fortan und für immer dar die Blaupausen für alle Sparkassen dieser Erde darstellen. Sein böser Zwilling war so frei, auch noch eine Grundrissskizze des deutschen Weihnachtsmarktes zu erstellen, sodass auch jene illustren Buden-Ansammlungen an jedem Ort dieser Bundesrepublik gleich aussehen. Den Rundgang über den Fürther Weihnachtsmarkt habe ich mir daher nach einem kurzen Blick auf den groben Aufbau gleich ganz gespart.

Erste Konfrontation mit den Eingeborenen
Zum Abschluss streife ich noch kurz durch den Stadtpark und begebe mich dann in die nahe liegende Dr.-Mack-Straße, einem erfrischend unansehnlichen Gebäudekomplex, und lasse mich in den Empfangshalle des Computec-Verlags nieder. Wenige Minuten nachdem ich mich telefonisch in der Cynamite-Redaktion angemeldet habe, treten mir zwei finstere Gestalten entgegen, stellen sich als Simon und Markus vor und zerren mich in eine finstere Kammer im Keller des Verlagsgebäudes. Nachdem sie mir diverse Folterwerkzeuge vorgestellt haben und ich voller Verzweiflung bereit bin, jede nur erdenkliche Untat zu gestehen, platzt die Empfangsdame herein und bestellt meinen Peinigern, dass der Verantwortliche vom Sonic Team erst später eintreffen wird, da seine Bahn liegen geblieben ist. Markus, der gerade zu einem brutalen Quicktime-Event ausholen wollte, lässt den Schlagring sinken, entschuldigt sich für die "Unannehmlichkeiten" und fährt mich stattdessen in ein Obergeschoss des Gebäudes.

Bewerbungsverhör
In einem wesentlich freundlicher ausgestalteten Raum mit weiter Fensterfront sitze ich nun den echten Cynamite-Redakteuren Simon und Thomas gegenüber, die mir eine halbe Stunde lang irgendwelche Fragen über meine Spielervergangenheit und journalistische Kompetenzen stellen. Nachdem das Verhör in eine offene Drohung gegen potenzielle Arbeitsaussätze meinerseits abdriftet, drehe ich den Spieß um und frage, wo denn der gestrige Buchstabe zum Weihnachtsgewinnspiel geblieben ist. Einige hanebüchene Aussagen später, die von "verdammt einfallsreich versteckt" über "war ein Bilderrätsel" bis hin zu "den hat der Hund gefressen" so ziemlich alle Ausreden enthalten, die das kleine Handbuch für den gestressten Spieleredakteur beinhaltet, schicken sie mich für ein Beratungsgespräch unter vier Augen in die nicht vorhandene Cafeteria. Anschließend werde ich noch einmal kurz zu gewissenhafter Mitarbeit ermahnt und in der Online-Redaktion von Cynamite willkommen geheißen. Das war ja einfach!

Bin ich schon drin?!
Die anschließende Kurzführung durchs Verlagsgebäude verläuft verhältnismäßig unspektakulär. Außer den Damen und Herren von Games aktuell gibt es hier nicht viel zu sehen. Zumindest gibt Simon sich viel Mühe diesen Eindruck zu erwecken. Umso größer ist die Ehre die mich beim Betreten der heiligen Redaktionsräumlichkeiten durchströmt. Die Spiele-Journalisten sitzen vor ihren Monitoren und geben sich beschäftigt. Das fällt einigen Personen leichter als anderen wodurch Ali sogleich eine Ermahnung durch den leitenden Online-Redakteur erfährt. Sodann erklärt Simon mir das Kommunikations- und Publikationssystem der Website. An dieser Stelle blende ich einfach mal aus, weil mir Stillschweigen über Computec-interne Informationen nahe gelegt wurde. Sagen wir einfach, das System basiert irgendwie auf einem Windows-System und hat daher allerhand Macken. Gut, dass wir das klären konnten.

Zeitvertreib
Ich verabschiede mich also von meinen neuen Mitarbeitern, wohl wissend, dass ich sie als Online-Praktikant vorerst nicht mehr sehen werde, hoffe dennoch auf gute Zusammenarbeit und überlege, wie ich die verbleibenden Stunden bis zur Heimfahrt wohl am sinnvollsten tot schlagen könnte. Schließlich unterliegt mein einzigartiges Deutsche-Bahn-Sonder-Spezial-Angebot für nur 101 Euro der Zugbindung. Daher habe ich noch gut zwei Stunden Zeit um mich in Fürth zu amüsieren. In letzter Minute ist der Typ vom Sonic Team angekommen und wird von Markus in den Keller geführt?

Ich gehe spontan mit und wir entwickeln gemeinsam ein adäquates Bestrafungskonzept. Hinter dem Schallisolierten Fenster beobachten wir, wie der Herr verzweifelt versucht Sonic trotz miserabler Steuerung und überhöhter Geschwindigkeit durch die geheimen Ringe flitzen zu lassen. Aufgrund der zusätzlichen Beschallung durch Tokyo Hotel und Hansi Hinterseer fällt ihm das sichtlich schwer. Nach sieben Minuten ist er geständig und verspricht, nie wieder Spielspaßraubende Quicktimeevents in Sonic-Spielen einzubauen. Da wir jedoch beide noch Zeit haben, lassen wir ihn mit Sonic Unleashed und Tokyo Hotel alleine und bestellen uns auf Verlagskosten eine Großfamilienpizza.

Zuhause ist es am schönsten
Die Heimreise verläuft erstaunlich problemlos. Bei Anblick des sehr kalten Wetters hatte ich ja mit mehrtägiger Übernachtung auf diversen deutschen Bahnhöfen gerechnet, aber die Nachtzüge sind tatsächlich ausnahmslos pünktlich. So geschieht es, dass ich bereits am Freitag gegen 2:20 Uhr daheim im Bett liege und von meiner journalistischen Zukunft träume.

Nachbetrachtung
Mittlerweile sind zwei Wochen ins Land gegangen. Ich habe unzählige News und zwei ordentliche Specials geschrieben. Simon ist einigermaßen zufrieden mit meiner Arbeit und hat mir zur Feier der Weihnacht ein ganz besonderes Geschenk gemacht. Ich darf bis nächstes Jahr die Hauptarbeit am News-Inhalt von Cynamite übernehmen. Man könnte jetzt darauf spekulieren, dass alle Redakteure und Volontaire im Urlaub sind und mir diese zusätzliche Schreibarbeit als offizielle Praktikanten-Bürde auferlegt wurde, aber mein Vorgesetzter lässt diese Umverteilung der Aufgabenfelder mit einem simplen Trick wie ein Geschenk aussehen: er verwendet in jedem neuen Auftrag das Wörtchen "darf". Das ehrt mich und verhindert meinerseits den Gebrauch von "lieber nicht". Vertrackte Situation aber auch?

Na, wenigstens schreiben die alten Cynamite-Hasen täglich irgendwelche Specials und versorgen die Community dadurch mit literarischen Ballaststoffen. Insgesamt betrachtet ist der Job als Online-Prakatikant schon sehr cool, soviel kann ich verraten. Und wenn ihr auch mal in den journalistischen Tiefen des Computec-Verlages wühlen wollt ? Ätsch, ich gebe den Posten vorerst nicht mehr her!
 
... und viel Erfolg bei Computec! Online-Praktikant... was es nicht alles gibt heutzutage. Na, wenigstens bleibt Dir das hässliche Fürth dann täglich erspart. Hättest Dir lieber das hübsche Nürnberg vor dem Vorstellungsgespräch anschauen sollen. ;-)
 
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