Der Treuetest

Chyperphunker

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Es kam mit der Morgenpost: ein ganz normal aussehendes Paket in braunem Packpapier und verschnürt mit derber Doppelschnur. Es unterschied sich in nichts von den Tausenden anderer Pakete, wie sie die Postboten tagtäglich austragen. Mit diesem aber hatte es eine besondere Bewandtnis ? eine ganz besondere?

"Die Probanden dürfen eine Stunde vor der Probennahme nichts gegessen haben."

Tom schwebte ungewiss in einem Zustand zwischen Gut und Böse. Er erkannte, nicht zu wissen, was passieren würde, könnte alles bedeuten. Dabei könnte sich "alles", also seine Problemlage, in heiteres Wohlgefallen auflösen oder, und das beinhaltete "alles" leider auch, das Ende bedeuten. Doch solange er in dieser Pattsituation verharrte, konnte zumindest der schlimmste Fall nicht eintreffen, was Tom für das Erste als erträglich befand.

Mit einem Quietschen zog er den Küchenstuhl an die Tischkante heran. Der Tisch war zwar nicht mehr das neueste Model, doch Tom liebte ihn, da er ein Geschenk seiner Eltern war. Die vielen Kratzer und Schrammen, die die Oberseite mittlerweile aufwies, hatte Tina einmal als Kriegsverletzungen bezeichnet und bezog sich damit albern auf das regelmäßige Familienfrühstück am Sonntag. Tom hatte bei dem Gedanken ein Bild in seinem Kopf, welches stark an TV-Werbespots aus den Neunzigern erinnerte. Vater, Mutter und Kind sitzen, um einen Tisch herum. In der Mitte fein säuberlich als Fächer ausgelegte Schwarzbrotscheiben, daneben einige Gläser Konfitüre, etwas Käse und Wurst, zwei noch frisch dampfende Tassen Kaffee sowie ein Glas Orangensaft für den Kleinen. Natürlich war die Szenerie in seinem Kopf bestens ausgeleuchtet, alle sind bis zur Perfektion gestriegelt und gucken wie die Profis direkt in die Kamera.

"Vor der Probennahme bitte nur Leitungswasser trinken."

Er und das Glas Wasser, welches gerade vor ihm auf dem Tisch stand, waren weniger in Szene gesetzt. Trotz der langen Vorlaufzeit in die Küchenspüle hatte das Wasser mittlerweile Zimmertemperatur und Tom überlegte sich, neues zu holen. Doch er verwarf das Vorhaben sogleich, um seinem ausweichenden Verhalten keinen weiteren Treibstoff zu liefern. Nichts in diesem Moment versprühte diese überzuckerte Familienatmosphäre, welcher er sich so gern besann.

Selbst das gerahmte Bild neben dem großen Küchenfenster, auf dem sein Sohn Kevin zu sehen war, verfehlte mittlerweile seinen Zweck als Motivationshilfe. Im Gegenteil. Tom hatte sich zwar zu Anfang seines inneren Konflikts häufig im Abbild seines Sohnes verloren, doch mittlerweile versuchte er zwanghaft, daran vorbeizuschauen.

"Im Test-Set befinden sich zwei Probenempfänger in steriler Kunststoffhülse."

Nachdem Tom einen der Probenempfänger zwischen Daumen und Zeigefinger gedreht und das kleine Stäbchen mit wattiertem Kopf beäugt hatte, verfiel er erneut seinen Gedanken. Der Tag schien ein "Draußen-Tag" zu sein. Wetter wie dieses nutze er für gewöhnlich, um mit den beiden Hunden spazieren zu gehen. Doch meistens war er dabei mit Kevin unterwegs. Der kurze Blick auf das vor ihm hängende Bild seines Sohnes holte ihn mit einem Knall wieder zurück in die mitleidlose Realität. Wie gebannt starrte er das Bild an und verkrampfte dabei immer heftiger. Er spürte, wie sich der Druck hinter seinen Augen erhöhte und sich die ersten Tränen in seinen Augenfalten sammelten. Mit hochschniefender Nase riss er sich vom Stuhl hoch, welcher durch die Wucht seiner Bewegung umkippte und mit einem Donnern auf den kalten Fliesenboden schlug.

"Führen Sie die Zellstoff Spitze 5-10 Mal an der Wangen Innenseite auf und ab."

Es schmeckte nach nichts. Wobei Tom daran zweifelte, mit der Wangeninnenseite überhaupt etwas schmecken zu können. Trotzdem war es ein fremdes Gefühl und er hoffte, alles richtig zu machen. In der Beschreibung stand, dass er das gebrauchte Stäbchen für 5 Minuten an der Luft trocknen lassen solle und es weder Haut noch Kleidung berühren dürfe. Um auf Nummer sicher zu gehen, schob Tom es keine Sekunde zu früh in das beigelegte Teströhrchen und dieses in einen gepolsterten Umschlag, in dem sich schon ein anderes Röhrchen mit einigen Haaren befand. Unbarmherzig schmiss er den Umschlag auf eine bedruckte Pappverpackung auf den Tisch und las ihren Schriftzug vor, als ob ihn jemand hören könnte:

"DNS Selbsttest 48 ? Von Jugendämtern anerkannt".

Die Anspannung schien sein Gesicht zu zerreißen. Ein schwenkender Blick in eine der verglasten Küchenschranktüren ließ ihn erschrecken. Die ihn anglotzende Grimasse war nur noch ein Zerrbild seiner selbst und erschien ihm ebenso so fremd wie die Entscheidung, welche er mit dem Verschließen des Umschlages besiegelte.
 
Kritik, Lob und Verbesserungsvorschläge erwünscht.

Gruß
Chyper
 
Wie immer gut und detailverliebt beschriebene Situation mitsamt dem Chyperphunker-typischen offenen Ende (mit dessen steter Existenz ich mich inzwischen bereits abgefunden habe, bevor ich anfange deine Blogs zu lesen).
 
Ich freue mich über deinen Kommentar, Billy. Danke dafür :)

Dir noch ein traumhaftes Wochenende.
Gruß Michel (Chyper)
 
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