Gamification - Trend in der Werbetrommel?

Linda-mys

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Ich hatte letztens das Vergnügen, zwei Hausarbeiten schreiben zu dürfen. Zwei Monate hatte ich Zeit - eigentlich genug und fast schon zu viel. Einige von euch kennen das folgende Prozedere. Alles andere erscheint plötzlich so interessant, als wäre man im Kleinkindalter. Und dabei meine ich wirklich alles: Die stupide Sendung auf RTL, der Ballaststoffgehalt der Frühstückshaferflocken oder die unsortierte Wäsche im Kleiderschrank. Plötzlich beginnt man damit, undenkliche Dinge zu tun: Abwaschen, Staubwischen, Saugen, ? Alles, bloß nicht die Hausarbeit! Mutti freut sich und mein Ärgernisfaktor steigt exponential zur verschwendeten Zeit an. Wäre es nicht hilfreich, es gäbe eine Art Questsystem? So müsste ich meine Hausarbeiten in einer festgelegten Zeitspanne schreiben und abschließen. Am Ende winkt eine Belohnung in Form von Punkten und Level Up's. Das Leben als Rollenspiel? Auf ironische Art und Weise klingt das schon verlockend.

Tatsächlich existieren Apps mit derlei Funktionen: EpicWin zum Beispiel funktioniert nach benanntem Questprinzip: Euer Avatar (nicht das Individuum selbst wohlgemerkt) sammelt Erfahrungspunkte und steigt Level auf, wenn ihr in der Realität verhasste Aufgaben erledigt. Wer sportlich aktiver werden möchte, bekommt mit der App Zombies, Run!, die dem Jogger die namensgebenden Beißerchen auf den Hals jagt, eine echte Motivationshilfe. Das alles sind nette Spielereien des Alltags, die nach dem Prinzip des Trendbegriffs Gamification funktionieren. Jeder mit einer gewissen Internetaffinität, wird davon sicherlich schon einmal gehört haben.

Was bedeutet das jetzt genau? Achtung jetzt wird?s wissenschaftlich: Gamification ist die Anwendung von Videospielmechanismen außerhalb des spielerischen Kontextes. Ziel soll sein, eine videospielbasierende Motivationssteigerung und den darauf folgenden Lerneffekt ins reale Leben zu übertragen. Sowohl klassische Brettspiele, als auch digitale Spiele besitzen eine Lernkomponente. Durch verschiedene Motivationen wird dieser Lernprozess vorangetrieben. Jene Motivationen sind beispielsweise der Drang, sich mit anderen zu messen oder sich selbst vor schier unlösbaren Herausforderungen zu stellen. Bei Erfolg wird neben einem Hochgefühl auch der genannte Lerneffekt hervorgerufen. Trial and Error erlebt nicht nur ein Kindergartenkind beim Spielen in der Bauecke, sondern auch ein Gamer, der solange in den Feuersturm des riesigen Drachen in Dark Souls rennt, bis er die kleine Nische am rechten Wegrand bemerkt. Die Motivation, eine schwierige oder brenzlige Situation im Spiel zu meistern, beschäftigt dann gerne mal zwei Stunden und mehr ? und das ohne auf die Uhr zu schauen. Im Spiel schulen wir sinnliche Wahrnehmungen, allem voran unsere Beobachtungsgabe und das Reaktionsvermögen. Wir merken uns bestimmte Abläufe und lernen, gesammeltes Wissen in andere Kontexte zu transferieren und dieses in unbekannten Situationen anzuwenden. Und diese Liste könnte noch mit vielzähligen Punkten erweitert werden...

Spiele - in allen Varianten ? haben nicht nur einen großen psychosozialen, sondern auch einen ebenso großen kulturellen Einflussfaktor. Gerade Videospielen kommt dabei eine immer größer werdende Bedeutung zu. Nach der britischen Autorin und Spieledesignerin Jane McGonigal hat jeder 21-jährige auf der Insel durchschnittlich 10.000 Stunden mit Videospielen verbracht. Wie gut das jetzt renommierte Hirnforscher und selbsternannte Videospielexperten finden, sei dahingestellt. Fakt ist, dass der Kapitalismus schon lange seine Fühler nach dieser Ressource ausgestreckt hat.

Der Gamification werden beispielsweise auch Applikationen wie Foursquare zugeordnet: Der User markiert seinen Standpunkt in Cafés, Restaurants, etc. und bekommt dafür Punkte zugeschrieben. Im nächsten Schritt kann er am markierten Ort Tipps und Aufgaben hinterlassen oder bestimmte Abzeichen verdienen. Das alles klingt zunächst nach Spaß und Schnitzeljagt, entpuppt sich am Ende aber als raffinierte Marketingstrategie, weil die Unternehmer mit Hilfe des Spieltriebes der Nutzer um deren Loyalität buhlen. Auch auf Facebook trachten wir nach Punkten, den sogenannten ,,Likes": Ein ,,Like" bekommt unsere Lieblingsbar, unsere Lieblingsband oder gar unser Lieblingsschokoriegel. Es findet weder ein Lernprozess des Users statt, noch werden Motivationen hervorgerufen, die vor allem auf emotionaler Ebene Wirkung zeigen. Stattdessen geben wir als Nutzer personelle Daten preis, und auf Seiten der Konzerne wird kräftig an der Produktionskurbel gedreht. Ferner verfügen Foursquare und Co. weder über ausdifferenzierte Spielmechaniken noch über ein festes Regelwerk - es gibt nichts zu verlieren und nichts zu gewinnen (zumindest nichts für die User). Das Videospiel an sich und gleichzeitig die gesamte Videospielkultur werden durch solche, allein wirtschaftlichen Zwecke entzaubert. Die Grundidee von Gamification wird in völlig falsche Wege geleitet. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum sich die etablierten Entwickler der Gamingbranche zurückhalten, wenn es um diesen Missbrauch von Videospiel-Mechanismen geht.

Natürlich gibt es Konzepte, die zeigen, dass man durch Gamification auch motiviert lernen kann. So habe ich erst kürzlich über World of Classcraft gelesen: Das ist ein spezielles Lernsystem, das ein Lehrer in einer Schule in den USA eingeführt hat. Fürs Zuspätkommen gibt es massig Damage und für erledigte Hausaufgaben rieselt es Erfahrungspunkte, die sich am Ende natürlich für den Bossgegner, der gefürchteten Matheklausur, auszahlen... Der Erfinder Shawn Young, selbst langjähriger ,,WOW"-Zocker, hat Erfolg damit und zeigt, dass Gamification Spaß macht und gleichzeitig eine wichtige Bedeutung haben kann. Auch Apps wie EpicWin greifen die Idee von Gamification gekonnt auf. Und auch hier muss man beachten, Realität und Spiel auseinander zu halten. Auf Seiten der Gamification-Gegner ist ein ,,Second-Life-Effekt" wohl der größte Kritikpunkt.

Nichtsdestotrotz, wie faszinierend ich das Konzept von Gamification auch finde, ist es vielleicht am Ende doch schöner, die Arbeit einmal ruhen zu lassen, sich auf das Sofa zu lümmeln, die Konsole anzuschalten und unmerklich die Zeit verfliegen zu lassen.
 
Mir hat dein Blog richtig gut gefallen. Es hat Spaß gemacht zu lesen was du von diesem Thema denkst. Ich selber habe mich mit Gamification bis jetzt nicht auseinander gesetzt. Aber wie du schon geschrieben hast: "Am Ende ist es doch vielleicht schöner, die Arbeit einmal ruhen zu lassen, sich auf das Sofa zu lümmeln, die Konsole anzuschalten und unmerklich die Zeit verfliegen zu lassen.
 
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