Splintersnake
Benutzer
- Mitglied seit
- 20.09.2009
- Beiträge
- 63
- Reaktionspunkte
- 3
November 2005: Während PC-Spieler schon gut ein Jahr das als "bestes Spiel aller Zeiten" angepriesene Half-Life 2 genießen durften, war es nun auch für die Xbox-Gemeinde, bzw. meine Wenigkeit soweit: Ich hielt Half-Life 2 in den Händen. Von der grünen Plastikbox blickte mir ein unscheinbar wirkender, bärtiger Brillenträger entgegen. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht viel anfangen mit Half-Life, aber natürlich war mir zu Ohren gekommen, dass diese Serie bei nicht wenigen Spielern als der heilige Gral der Spielekunst galt. An diesem Tag bekam ich eindrucksvoll demonstriert, was dran war an dieser Verheißung - eine Liebeserklärung.
Damals war die Xbox zwar nicht die erfolgreichste, dafür aber leistungsstärkste Konsole. Multiplattform-Umsetzungen machten hier meist die bessere Figur und nur auf ihr trauten sich die Entwickler eine Doom 3-Portierung zu, welche durchaus gelungen war und sogar PC-Spielern zumindest ein respektables Nicken abringen konnte. Für Half-Life 2 hat es dann aber doch nicht ganz gereicht: Die Xbox-Version ruckelte derb, die Modelle wurden kräftig zurückgeschraubt und viele Texturen waren so unverschämt niedrig aufgelöst, dass man teilweise nicht mehr erkennen konnte, ob der seltsame Klumpen vor einem denn nun ein Stein oder ein Stück Metall sein wollte. Aber all das war mir vollkommen gleichgültig. Zu sehr riss mich die Welt in ihren Bann, die für ein Konsolenspiel dennoch unglaublich gut aussah. Davon abgesehen beschenkte Valve uns ja noch mit der jetzt schon legendären Orange Box. Und seitdem darf ich als 360-Spieler ein Half-Life 2 genießen, welches der PC-Version in nichts nachsteht.
Vom G-Man in Empfang genommen, steige ich aus dem Zug. Ekelhaft grelles Licht blendet mich. Ich wurde gerade von einer Drohne fotografiert. Wenn wir uns wiedersehen, werde ich ein Brecheisen dabei haben. Über mir starrt Wallace Breen von einem riesigen Bildschirm auf mich hinunter und verkündet seine faschistische Propaganda. Der Wind pfeift über den Bahnsteig und treibt Plastikflaschen und Hamburgerschachteln vor mir her. Mit allem was hier rumsteht, kann ich interagieren. Alles reagiert so, wie ich es erwarte: Fässer rollen über den Boden, Kisten zersplittern, Holzkonstruktionen und Pappkartons fallen in sich zusammen. Und natürlich werfe ich dem Combine die Dose an den Kopf, auch auf die Gefahr hin, eine heftige Tracht Prügel zu beziehen. Nettes Spiel im Spiel: Den "Ordnungsschutz" mit Müll bewerfen und wegrennen - ein Riesenspaß!
Einige Menschen klagen mir ihr Leid. Ihr Minenspiel ist perfekt, ihre Synchronisation weniger. Ein Typ sitzt deprimiert an einem Tisch und rät mir, nicht von dem Wasser zu trinken, da man davon wohl sein Gedächtnis verlieren könnte. "Ich weiß nicht mal, wie ich hierher gekommen bin", meint er. Ein anderer läuft apathisch durch die Empfangshalle und kann nicht fassen, das ständig Züge ankommen aber nie abfahren. Dank Barney entgehe ich der Deportation nach Nova Prospekt und trete auf die Straße. Das Sonnenlicht blitzt hinter einigen Häusern und Pappeln hervor und im Hintergrund streckt sich die Zitadelle bedrohlich dem Himmel entgegen. Ich folge der Straße und erlebe Unterdrückung an jeder Ecke. Polizisten verprügeln Gefangene und riesige Strider bewachen Straßensperren.
Mein Weg führt mich auf einen Hinterhof. Auf dem Spielplatz liegt eine kleine Puppe, die unmotiviert quakt, wenn man sie aufhebt. Ich lege sie auf ein Ende einer Wippe. Dann nehme ich einen Ziegelstein und lasse ihn auf das andere Ende fallen. Die Puppe fliegt in hohem Bogen durch die Luft. Ich kann?s einfach nicht lassen. Jedes Mal, wenn ich hier vorbeikomme, muss ich das tun. Neben der Schaukel steht ein Spiel, bei dem man Kreuze und Kreise in eine Reihe bekommen muss. Die genaue Bezeichnung hierfür fällt mir gerade nicht ein und ich bin auch zu faul, das zu recherchieren. Aber ich bin mir sicher, jeder hat das schon mal während einer langweiligen Mathestunde gespielt. EGAL. Jedenfalls fehlt hier ein Baustein und man wird ihn später in einer Wohnung auf einem Tisch finden. Da werden verschiedene Orte durch kleine Details verbunden, die eine Geschichte im Kopf des Spielers entstehen lassen können. Auf der anderen Seite des Hofs steht ein Drehkreuz, welches man selbstverständlich auch benutzen darf. Also packe ich allen möglichen Abfall drauf und fange an, das Ding wie verrückt zu drehen, bis es den gesamten Müll physikalisch korrekt über den Hof verteilt. Weiter entfernt stehen zwei Combine-Schergen vor einem Hauseingang und beobachten mich. Auch wenn ich die Gesichter unter ihren Masken nicht erkennen kann, bin ich mir sicher, dass sie sich gerade fragende Blicke zuwerfen.
Im Wohnblock beobachte ich, wie die Knüppelpolizei eine Wohnung stürmt. Dann sehe ich wieder Wallace Breen?s verlogene Visage in einem Fernseher. Er faselt was von Kapitulation und wie wichtig es für die Menschheit wäre, dem Willen der Combine zu folgen. Der verkappte Revolutionär in mir kommt durch und ich werfe den Fernseher aus dem Fenster. Ich wiederhole: Man kann Fernseher aus dem Fenster werfen! Allein dafür muss man dieses Spiel lieben! Nun wird es brenzlig. Die Combine scheinen mich als "potentiellen Unruheherd" enttarnt zu haben und machen jagt auf mich. Mit Hilfe der Zivilisten kann ich über die Dächer der Stadt in ein leerstehendes Haus flüchten und wähne mich in Sicherheit. Doch Fehlanzeige! Schon bald sehe ich mich von mehreren Combine umzingelt. Alle Fluchtwege sind abgeschnitten, alle Hoffnung ist dahin. Ihre Schlagstöcke prasseln auf mich ein und mir wird schwarz vor Augen. "Nix da!" höre ich eine weibliche Stimme energisch rufen, gefolgt von den Scherzensschreien der Combine. Ich komme wieder zu mir und blicke in ein wunderhübsches Gesicht: "Gordon Freeman, vermute ich." Alyx hat mich gerettet und das Abenteuer beginnt ...
Ich könnte jetzt stundenlang weitererzählen. Ich kenne jeden Quadratmeter des Spiels und würde es wohl auch mit verbundenen Augen meistern. Wahrscheinlich wäre ich entsetzt, wenn ich mitgezählt hätte, wie oft ich Half-Life 2 schon durchgespielt habe. Es wird einfach nicht langweilig. Das liegt auch daran, dass sich jeder Abschnitt während der gut 15 Stunden Spielzeit anders anfühlt. Wir müssen uns dem Häuserkampf in City 17 stellen und machen mit dem Luftboot die weitläufigen Kanäle außerhalb der Stadt unsicher. Die Lautsprecheranweisungen der Combine dringen von der Stadt bis zu uns durch: "Achtung: Antibürger gesichtet. Höchststrafmaß kann verhängt werden." Plötzlich werden wir sogar direkt angesprochen: "Bürger. Sie haben sich mehrerer schwerer Vergehen schuldig gemacht. Stellen sie sich unverzüglich ihrem Urteil." Nun ist klar: Man ist zum Abschuss freigegeben. Es gibt kein Zurück mehr. Kurz darauf macht ein Helikopter Jagd auf uns. In der nächsten Stunde werden wir immer wieder mit ihm Bekanntschaft machen. Irgendwann haben wir seine Basis erreicht. In einem Kampf auf Leben und Tod müssen wir uns ihm nun stellen, während er einen Bombenregen nach dem anderen auf uns niedergehen lässt. Holen wir ihn endlich vom Himmel, zerbricht er in mehrere Stücke; sogar der Pilot wird aus seinem Sitz geschleudert. Wir schlagen uns bis zum alten Umspannwerk durch und schnetzeln uns, bewaffnet mit Graviton und Sägeblättern, durch das düstere Ravenholm, ein kleines, längst vergessenen Dorf, welches von Horden Zombies und Kopfkrabben erobert wurde. Mit Hilfe des verrückten Gregori gelingt uns die Flucht, doch leider müssen wir ihn im Feuer zurücklassen.
Ein alter Stollen führt wieder ins Tageslicht, wo uns eine Gruppe Freiheitskämpfer in Empfang nimmt, die uns einen Buggy zur Verfügung stellt. Mit ihm nehmen wir den Highway 17 nach Nova Prospekt. Beim Sturm auf den von Alcatraz inspirierten Gefängniskomplex befreien wir unseren alten Freund Eli Vance. Am Ende landen wir wieder in City 17. Eine Woche ist seitdem vergangen, und in der Stadt hat sich einiges geändert: Die verbliebenen Menschen haben neuen Mut gefasst, treten den Combine entschlossen entgegen und schließen sich uns euphorisch an. Wir sind zu einem Symbol des Widerstandes geworden und werden den Kampf gegen das totalitäre Regime bis in die Zitadelle tragen. Klasse ist, dass all diese Abschnitte flüssig ineinander übergehen. Es gibt zwar immer wieder Ladepausen, aber die Umgebung verändert sich Stück für Stück, bis das neue Setting komplett ist. Auf diese Weise hat man wirklich das Gefühl, eine große Reise anzutreten, anstatt einfach nur stur Levels abzuarbeiten. Ständig spürt man den Schöpfungsatem der Entwickler, den unbedingten Willen, dem Spieler immer wieder etwas Neues zu bieten. Charaktere wie Alyx oder der schrullige Dr. Kleiner wirken so lebensecht, dass man sich dabei ertappt, auf ihre Fragen zu antworten oder sie stirnrunzelnd anblickt, wenn sie wieder mal einen dummen Witz reißen: "Hey Gordon, dieser Combine hat ne? Krabbe auf seinem Kopf. Er ist jetzt ein Zombine. Verstehst du? Zombine." Ja klar, ist gut, Alyx. Das ist übrigens eine Szene aus Episode 1, die stellenweise etwas auf der Stelle trat. Episode 2 hingegen zog wieder alle Register guter Unterhaltung und bot einen denkwürdigen Augenblick nach dem anderen. Die Inzwischen etwas angestaubte Source Engine wurde partiell verbessert und zauberte einen schönen White Forest auf den Bildschirm.
Es nicht zuletzt die Plattenbau-Romantik, die mich nicht loslässt, das authentische, osteuropäische Design des Spiels. Wo andere Shooter immer wieder mit langweiligen Militär-Szenarios enttäuschen, zeigt Half-Life 2 Charakter. Viele der Abschnitte sehen teilweise aus wie Orte, an denen ich meine Kindheit verbracht habe. Durch meine Heimatstadt, Torgau, fließt der Schwarze Graben. Er ist umgeben von Wiesen, Schilf und heruntergekommenen Industrieanlagen. Unter den Wiesen verlaufen einige fast mannshohe Abflussleitungen, die Regenwasser in den Fluss leiten. Als Kinder sind wir manchmal darin herumgekrochen und haben Ninja-Turtles gespielt. Das ist mir nicht peinlich, es war eine tolle Zeit. Als ich einmal dort mit meinem Hund spazieren ging, fing ich an, die Melodie aus dem Abschnitt "Wassergefahr" zu summen. Denn alles an diesen Ort erinnerte mich daran.
Es war der Augeblick, in dem ich plötzlich den tiefen Wunsch verspürte, diese Szenarie nachzubauen. Ich war mir sicher, ich hätte ein Händchen für Leveldesign, hatte aber keine Ahnung von Modelling. Ich ärgerte mich, weil ich nur zu einigen Skizzen fähig war. Also besorgte ich mir 3-D-Software, viel Literatur und einen Fotoapparat. Die ersten Maps fielen recht dürftig aus, aber schon nach wenigen Monaten war ich gut genug, um die Aufmerksamkeit von einem österreichischen Team namens Quanti Code auf mich zu ziehen. Die Truppe arbeitete gerade an dem inzwischen auf Eis gelegten Multiplayer-Panzer-Shooter "Zero Ballistics" und ich durfte an einigen Maps mitarbeiten. Abends hielten wir dann immer Testsessions ab. Auch wenn das Spiel nie fertig wurde, war es ein tolles Gefühl, die eigenen Modelle in einem richtigen Spiel erleben zu dürfen. Ich hätte vor Freude heulen können! Fakt ist: Half-Life 2 war der Anstoß. Ohne dieses Spiel hätte ich wahrscheinlich nie die Motivation gefunden, mich mit 3-D-Grafik zu beschäftigen.
Was kann ich noch schreiben? Eine ganze Menge, aber das würde den Rahmen sprengen. Diejenigen, die Half-Life 2 gespielt haben, wissen, wie gut es ist. Für alle anderen ist es langweilig, ellenlange Lobreden auf ein Spiel zu lesen, das sie nicht gespielt haben. All denen muss ich aber unbedingt die Orange Box ans Herz legen, die gerade für lächerliche 20 Euro bei Saturn rumsteht. Bleibt nur noch zu sagen, dass ich endlich Episode 3 spielen will. Oder Half-Life 3. Was auch immer. Valve ist schlicht zu bedauern. Nicht ohne Grund haben wir bis heute nur einige Artworks von Episode 3 gesehen. Schier grenzenlos und unerfüllbar sind die Erwartungen an einen neuen Teil, der nichts anderes sein darf, als ein weiteres Meisterwerk, eine konsequente Weiterentwicklung, eine Revolution! Etwas anderes ist nicht zu erwarten von Half-Life. Vom "besten Spiel aller Zeiten".
P.S. Sorry, Balthie
Damals war die Xbox zwar nicht die erfolgreichste, dafür aber leistungsstärkste Konsole. Multiplattform-Umsetzungen machten hier meist die bessere Figur und nur auf ihr trauten sich die Entwickler eine Doom 3-Portierung zu, welche durchaus gelungen war und sogar PC-Spielern zumindest ein respektables Nicken abringen konnte. Für Half-Life 2 hat es dann aber doch nicht ganz gereicht: Die Xbox-Version ruckelte derb, die Modelle wurden kräftig zurückgeschraubt und viele Texturen waren so unverschämt niedrig aufgelöst, dass man teilweise nicht mehr erkennen konnte, ob der seltsame Klumpen vor einem denn nun ein Stein oder ein Stück Metall sein wollte. Aber all das war mir vollkommen gleichgültig. Zu sehr riss mich die Welt in ihren Bann, die für ein Konsolenspiel dennoch unglaublich gut aussah. Davon abgesehen beschenkte Valve uns ja noch mit der jetzt schon legendären Orange Box. Und seitdem darf ich als 360-Spieler ein Half-Life 2 genießen, welches der PC-Version in nichts nachsteht.
Vom G-Man in Empfang genommen, steige ich aus dem Zug. Ekelhaft grelles Licht blendet mich. Ich wurde gerade von einer Drohne fotografiert. Wenn wir uns wiedersehen, werde ich ein Brecheisen dabei haben. Über mir starrt Wallace Breen von einem riesigen Bildschirm auf mich hinunter und verkündet seine faschistische Propaganda. Der Wind pfeift über den Bahnsteig und treibt Plastikflaschen und Hamburgerschachteln vor mir her. Mit allem was hier rumsteht, kann ich interagieren. Alles reagiert so, wie ich es erwarte: Fässer rollen über den Boden, Kisten zersplittern, Holzkonstruktionen und Pappkartons fallen in sich zusammen. Und natürlich werfe ich dem Combine die Dose an den Kopf, auch auf die Gefahr hin, eine heftige Tracht Prügel zu beziehen. Nettes Spiel im Spiel: Den "Ordnungsschutz" mit Müll bewerfen und wegrennen - ein Riesenspaß!
Einige Menschen klagen mir ihr Leid. Ihr Minenspiel ist perfekt, ihre Synchronisation weniger. Ein Typ sitzt deprimiert an einem Tisch und rät mir, nicht von dem Wasser zu trinken, da man davon wohl sein Gedächtnis verlieren könnte. "Ich weiß nicht mal, wie ich hierher gekommen bin", meint er. Ein anderer läuft apathisch durch die Empfangshalle und kann nicht fassen, das ständig Züge ankommen aber nie abfahren. Dank Barney entgehe ich der Deportation nach Nova Prospekt und trete auf die Straße. Das Sonnenlicht blitzt hinter einigen Häusern und Pappeln hervor und im Hintergrund streckt sich die Zitadelle bedrohlich dem Himmel entgegen. Ich folge der Straße und erlebe Unterdrückung an jeder Ecke. Polizisten verprügeln Gefangene und riesige Strider bewachen Straßensperren.
Mein Weg führt mich auf einen Hinterhof. Auf dem Spielplatz liegt eine kleine Puppe, die unmotiviert quakt, wenn man sie aufhebt. Ich lege sie auf ein Ende einer Wippe. Dann nehme ich einen Ziegelstein und lasse ihn auf das andere Ende fallen. Die Puppe fliegt in hohem Bogen durch die Luft. Ich kann?s einfach nicht lassen. Jedes Mal, wenn ich hier vorbeikomme, muss ich das tun. Neben der Schaukel steht ein Spiel, bei dem man Kreuze und Kreise in eine Reihe bekommen muss. Die genaue Bezeichnung hierfür fällt mir gerade nicht ein und ich bin auch zu faul, das zu recherchieren. Aber ich bin mir sicher, jeder hat das schon mal während einer langweiligen Mathestunde gespielt. EGAL. Jedenfalls fehlt hier ein Baustein und man wird ihn später in einer Wohnung auf einem Tisch finden. Da werden verschiedene Orte durch kleine Details verbunden, die eine Geschichte im Kopf des Spielers entstehen lassen können. Auf der anderen Seite des Hofs steht ein Drehkreuz, welches man selbstverständlich auch benutzen darf. Also packe ich allen möglichen Abfall drauf und fange an, das Ding wie verrückt zu drehen, bis es den gesamten Müll physikalisch korrekt über den Hof verteilt. Weiter entfernt stehen zwei Combine-Schergen vor einem Hauseingang und beobachten mich. Auch wenn ich die Gesichter unter ihren Masken nicht erkennen kann, bin ich mir sicher, dass sie sich gerade fragende Blicke zuwerfen.
Im Wohnblock beobachte ich, wie die Knüppelpolizei eine Wohnung stürmt. Dann sehe ich wieder Wallace Breen?s verlogene Visage in einem Fernseher. Er faselt was von Kapitulation und wie wichtig es für die Menschheit wäre, dem Willen der Combine zu folgen. Der verkappte Revolutionär in mir kommt durch und ich werfe den Fernseher aus dem Fenster. Ich wiederhole: Man kann Fernseher aus dem Fenster werfen! Allein dafür muss man dieses Spiel lieben! Nun wird es brenzlig. Die Combine scheinen mich als "potentiellen Unruheherd" enttarnt zu haben und machen jagt auf mich. Mit Hilfe der Zivilisten kann ich über die Dächer der Stadt in ein leerstehendes Haus flüchten und wähne mich in Sicherheit. Doch Fehlanzeige! Schon bald sehe ich mich von mehreren Combine umzingelt. Alle Fluchtwege sind abgeschnitten, alle Hoffnung ist dahin. Ihre Schlagstöcke prasseln auf mich ein und mir wird schwarz vor Augen. "Nix da!" höre ich eine weibliche Stimme energisch rufen, gefolgt von den Scherzensschreien der Combine. Ich komme wieder zu mir und blicke in ein wunderhübsches Gesicht: "Gordon Freeman, vermute ich." Alyx hat mich gerettet und das Abenteuer beginnt ...
Ich könnte jetzt stundenlang weitererzählen. Ich kenne jeden Quadratmeter des Spiels und würde es wohl auch mit verbundenen Augen meistern. Wahrscheinlich wäre ich entsetzt, wenn ich mitgezählt hätte, wie oft ich Half-Life 2 schon durchgespielt habe. Es wird einfach nicht langweilig. Das liegt auch daran, dass sich jeder Abschnitt während der gut 15 Stunden Spielzeit anders anfühlt. Wir müssen uns dem Häuserkampf in City 17 stellen und machen mit dem Luftboot die weitläufigen Kanäle außerhalb der Stadt unsicher. Die Lautsprecheranweisungen der Combine dringen von der Stadt bis zu uns durch: "Achtung: Antibürger gesichtet. Höchststrafmaß kann verhängt werden." Plötzlich werden wir sogar direkt angesprochen: "Bürger. Sie haben sich mehrerer schwerer Vergehen schuldig gemacht. Stellen sie sich unverzüglich ihrem Urteil." Nun ist klar: Man ist zum Abschuss freigegeben. Es gibt kein Zurück mehr. Kurz darauf macht ein Helikopter Jagd auf uns. In der nächsten Stunde werden wir immer wieder mit ihm Bekanntschaft machen. Irgendwann haben wir seine Basis erreicht. In einem Kampf auf Leben und Tod müssen wir uns ihm nun stellen, während er einen Bombenregen nach dem anderen auf uns niedergehen lässt. Holen wir ihn endlich vom Himmel, zerbricht er in mehrere Stücke; sogar der Pilot wird aus seinem Sitz geschleudert. Wir schlagen uns bis zum alten Umspannwerk durch und schnetzeln uns, bewaffnet mit Graviton und Sägeblättern, durch das düstere Ravenholm, ein kleines, längst vergessenen Dorf, welches von Horden Zombies und Kopfkrabben erobert wurde. Mit Hilfe des verrückten Gregori gelingt uns die Flucht, doch leider müssen wir ihn im Feuer zurücklassen.
Ein alter Stollen führt wieder ins Tageslicht, wo uns eine Gruppe Freiheitskämpfer in Empfang nimmt, die uns einen Buggy zur Verfügung stellt. Mit ihm nehmen wir den Highway 17 nach Nova Prospekt. Beim Sturm auf den von Alcatraz inspirierten Gefängniskomplex befreien wir unseren alten Freund Eli Vance. Am Ende landen wir wieder in City 17. Eine Woche ist seitdem vergangen, und in der Stadt hat sich einiges geändert: Die verbliebenen Menschen haben neuen Mut gefasst, treten den Combine entschlossen entgegen und schließen sich uns euphorisch an. Wir sind zu einem Symbol des Widerstandes geworden und werden den Kampf gegen das totalitäre Regime bis in die Zitadelle tragen. Klasse ist, dass all diese Abschnitte flüssig ineinander übergehen. Es gibt zwar immer wieder Ladepausen, aber die Umgebung verändert sich Stück für Stück, bis das neue Setting komplett ist. Auf diese Weise hat man wirklich das Gefühl, eine große Reise anzutreten, anstatt einfach nur stur Levels abzuarbeiten. Ständig spürt man den Schöpfungsatem der Entwickler, den unbedingten Willen, dem Spieler immer wieder etwas Neues zu bieten. Charaktere wie Alyx oder der schrullige Dr. Kleiner wirken so lebensecht, dass man sich dabei ertappt, auf ihre Fragen zu antworten oder sie stirnrunzelnd anblickt, wenn sie wieder mal einen dummen Witz reißen: "Hey Gordon, dieser Combine hat ne? Krabbe auf seinem Kopf. Er ist jetzt ein Zombine. Verstehst du? Zombine." Ja klar, ist gut, Alyx. Das ist übrigens eine Szene aus Episode 1, die stellenweise etwas auf der Stelle trat. Episode 2 hingegen zog wieder alle Register guter Unterhaltung und bot einen denkwürdigen Augenblick nach dem anderen. Die Inzwischen etwas angestaubte Source Engine wurde partiell verbessert und zauberte einen schönen White Forest auf den Bildschirm.
Es nicht zuletzt die Plattenbau-Romantik, die mich nicht loslässt, das authentische, osteuropäische Design des Spiels. Wo andere Shooter immer wieder mit langweiligen Militär-Szenarios enttäuschen, zeigt Half-Life 2 Charakter. Viele der Abschnitte sehen teilweise aus wie Orte, an denen ich meine Kindheit verbracht habe. Durch meine Heimatstadt, Torgau, fließt der Schwarze Graben. Er ist umgeben von Wiesen, Schilf und heruntergekommenen Industrieanlagen. Unter den Wiesen verlaufen einige fast mannshohe Abflussleitungen, die Regenwasser in den Fluss leiten. Als Kinder sind wir manchmal darin herumgekrochen und haben Ninja-Turtles gespielt. Das ist mir nicht peinlich, es war eine tolle Zeit. Als ich einmal dort mit meinem Hund spazieren ging, fing ich an, die Melodie aus dem Abschnitt "Wassergefahr" zu summen. Denn alles an diesen Ort erinnerte mich daran.
Es war der Augeblick, in dem ich plötzlich den tiefen Wunsch verspürte, diese Szenarie nachzubauen. Ich war mir sicher, ich hätte ein Händchen für Leveldesign, hatte aber keine Ahnung von Modelling. Ich ärgerte mich, weil ich nur zu einigen Skizzen fähig war. Also besorgte ich mir 3-D-Software, viel Literatur und einen Fotoapparat. Die ersten Maps fielen recht dürftig aus, aber schon nach wenigen Monaten war ich gut genug, um die Aufmerksamkeit von einem österreichischen Team namens Quanti Code auf mich zu ziehen. Die Truppe arbeitete gerade an dem inzwischen auf Eis gelegten Multiplayer-Panzer-Shooter "Zero Ballistics" und ich durfte an einigen Maps mitarbeiten. Abends hielten wir dann immer Testsessions ab. Auch wenn das Spiel nie fertig wurde, war es ein tolles Gefühl, die eigenen Modelle in einem richtigen Spiel erleben zu dürfen. Ich hätte vor Freude heulen können! Fakt ist: Half-Life 2 war der Anstoß. Ohne dieses Spiel hätte ich wahrscheinlich nie die Motivation gefunden, mich mit 3-D-Grafik zu beschäftigen.
Was kann ich noch schreiben? Eine ganze Menge, aber das würde den Rahmen sprengen. Diejenigen, die Half-Life 2 gespielt haben, wissen, wie gut es ist. Für alle anderen ist es langweilig, ellenlange Lobreden auf ein Spiel zu lesen, das sie nicht gespielt haben. All denen muss ich aber unbedingt die Orange Box ans Herz legen, die gerade für lächerliche 20 Euro bei Saturn rumsteht. Bleibt nur noch zu sagen, dass ich endlich Episode 3 spielen will. Oder Half-Life 3. Was auch immer. Valve ist schlicht zu bedauern. Nicht ohne Grund haben wir bis heute nur einige Artworks von Episode 3 gesehen. Schier grenzenlos und unerfüllbar sind die Erwartungen an einen neuen Teil, der nichts anderes sein darf, als ein weiteres Meisterwerk, eine konsequente Weiterentwicklung, eine Revolution! Etwas anderes ist nicht zu erwarten von Half-Life. Vom "besten Spiel aller Zeiten".
P.S. Sorry, Balthie