[Zu Beginn unserer Jerusalem-Reise stehen wir mit Altair hoch über den Dächern der Stadt. Von einem schmalen Steg auf der Spitze des größten Gebäudes der mittelalterlichen Metropole offenbart sich ein majestätischer Anblick auf unzählige Gebäude mit ihren kuppelförmigen Dächern, Menschen, die in den Straßen ihrem Tagesgeschäft nachgehen, und in der Ferne erkennen wir einige Hügel am Horizont, auf deren Anhöhen Dörfer und Städte auszumachen sind.
Ob diese Objekte Teil der 3D-Welt oder platte Hintergrundgrafiken sind, lautet unsere eher rhetorisch gemeinte Frage - denn kaum ein Spiel zuvor verfügte über eine solche Weitsicht bei dermaßen hoher Framerate. »Aber sicher«, kommt die überraschende Antwort vom Entwickler. »Wenn du willst, kannst du in diese Richtung loslaufen und wirst irgendwann dort ankommen.« Was in der aktuellen Alpha-Version aber leider noch nicht möglich war.
Wenden wir uns daher lieber wieder der unmittelbaren Umgebung zu. Von unserem Aussichtspunkt aus blicken wir hinab auf einen beschaulichen Marktplatz, wo nichts ahnende Bürger umherschlendern. Ein glitzernder Brunnen spendet der trocken staubigen Luft seine Feuchtigkeit, während der Assassine wie ein Adler aus der Höhe nach seinem nächsten Opfer späht. Dann wagen wir den Sprung: Geschätzte 50 Meter im freien Fall lassen wir Altair in einem Heuwagen zur Landung kommen. Realismus spielt bei den übermenschlichen Aktionsmöglichkeiten von »Assassin's Creed« eine untergeordnete Rolle. Alternativ hätten wir übrigens auch die Klettertour nach unten antreten dürfen - für jede Aufgabe existieren verschiedenste Lösungsmöglichkeiten.
Masse mit Klasse
Anstatt uns schnurstracks zur ersten Quest zu begeben, nutzen wir die Gelegenheit, ein wenig durch die Straßen und Gässchen von Jerusalem zu schlendern. Und werden auf diese Weise Zeuge der einzigartigen »Crowd Behaviour« von »Assassin's Creed«: Im Gegensatz zu vergleichbaren Spielen wie der »Grand Theft Auto«-Serie sind die NPCs des Ubisoft-Titels nicht bloße Statisten, Gegner oder Questgeber. Sie haben ein richtiges Eigenleben und bilden darüber hinaus einen zentralen Kern im Gameplay. Um seine wahre Identität als Attentäter vor den Stadtwachen und Bürgern stets im Verborgenen zu halten, muss der Spieler eins mit der Menschenmenge werden, beispielsweise sich einer Gruppe Mönche anschließen und so den suchenden Blicken entgehen.
Außerordentlich gelungen: Statt an den NPCs ungerührt vorbeizuziehen oder gar mangels Kollisionsabfrage durch sie hindurchzuschweben, reagiert Altair auf jede Person in seiner unmittelbaren Umgebung - und umgekehrt. Per Tastendruck schiebt der Spieler im Weg stehende Passanten mit sanftem Nachdruck aus dem Weg. Wer es eher rau und ruppig mag, rempelt sich durch die Menge - und zieht auf die Weise Aggressionen oder die Furcht seiner Mitbürger auf sich.
Besondere Auswirkungen erfährt dieses Feature während waghalsiger Fluchten vor den Stadtwachen. Dann gilt es, sich per »Bodycheck« einen Weg durch die Massen zu bahnen. Mitbürger, die nicht gut auf einen zu sprechen sind, versuchen den Spieler dabei zu behindern. Andere wiederum springen ängstlich beiseite. Die Menschenmenge wird ein »dynamisches Hindernis«, nennt Patrice dieses Prinzip beim Namen.
Auf die Vorbilder von »Assassin's Creed« angesprochen, bezieht sich Jade Raymond, Produzentin des Spiels, auf eben dieses Spielgefühl: »Natürlich ist dem Spiel anzusehen, dass das Team zuvor an Titel wie Prince of Persia und Splinter Cell arbeitete. Die wichtigste Inspiration holten wir uns aber bei Sportspielen wie der NHL-Serie. Genau diese Art von Gameplay wollten wir vermitteln - allerdings in einem gänzlich neuen Kontext.« Auch Racing Games wie »Most Wanted« seien ausschlaggebend für das Geschwindigkeitsgefühl der Verfolgungsjagden gewesen.
Beim Stichwort »Splinter Cell: Conviction« mussten wir selbstverständlich nachbohren: Ob es clever ist, zwei Spiele mit zumindest im Ansatz ähnlichem Crowd-Konzept zu entwickeln, fragen wir Jade. Die muss lachen: »Nun, wenn mehrere Leute zur selben Zeit auf dieselbe Idee kommen und alles dafür riskieren, sie umzusetzen, dann nehme ich an, dass sie einfach clever sein muss…« Bisher können wir diesen Punkt jedenfalls vorbehaltlos bestätigen.
Prinz von der Rolle
Die Ähnlichkeiten zu »Prince of Persia« hingegen schürten bei uns im Vorfeld die größten Bedenken: Würde sich ein dermaßen hoher Freiheitsgrad und komplexes Gameplay mit der Fingerspitzen-Akrobatik des persischen Prinzen vereinbaren lassen? Entwarnung: Ja. Und wie! Denn simpler geht es in dieser Hinsicht nicht mehr: Statt sich beim Versuch, zur rechten Zeit den richtigen Knopf zu drücken die Finger zu verknoten, hält der Spieler einen Button gedrückt und läuft von nun an Wände empor, springt von Hausdach zu Hausdach oder balanciert in haarsträubendem Tempo über millimeterdünne Stege in Schwindel erregenden Höhen - alles (fast) automatisch. Oben und unten, klettern, fallen und aufstehen und die Schwerkraft sowieso sind bei diesem Wahnwitz ohne Bedeutung. Gegen Altair ist und bleibt Spider-Man ein Milchbubi.
Jeder auch noch so winzige Vorsprung im Mauerwerk dient euch dabei als Haltepunkt. Auf die Weise lassen sich in Windeseile auch die höchsten Türme besteigen. Diese Einfachheit ist unter anderem auch dem innovativen Steuerungskonzept zu verdanken: Ein Button dient als »Hand«-Button, einer als »Fuß«-Button und löst situationsabhängig Aktionen mit dem entsprechenden Körperteil aus: Auf die Weise teilt ihr mit ein und derselben Taste beispielsweise Fausthiebe aus, greift im freien Fall nach dem rettenden Felsvorsprung oder schiebt einen hinderlichen Passanten aus dem Weg.
Ähnlich innovativ und simpel präsentiert sich das Kampfsystem: Statt niveauloses Button-Mashing abzuliefern, muss der Spieler das Verhalten der Gegner genauestens beobachten, um dann im geeigneten Zeitpunkt anzugreifen oder einen Counter zu platzieren. Auch hier erweisen sich die Buttons für Hand oder Fuß als taktische Kniffe: Setzt ein Opponent zum Schlag an, pariert ihr beispielsweise per »Hand«-Taste mit dem Schwert, um dann mit einem Fußtritt zu kontern und so die Verteidigung des Feindes zu durchbrechen, was daraufhin eine der extrem coolen Finishing-Animationen auszulöst.
Als Waffen stehen neben besagtem Schwert auch die schneidigen Doppelklingen sowie der am linken Unterarm verborgen getragene Assassinen-Dolch zur Verfügung, der bei Bedarf hervorschießt und einen schnellen, lautlosen Tod zufügt. Die Kombination der unterschiedlichen Kampftechniken machen einen Großteil der taktischen Raffinesse während der Auseinandersetzungen aus. In der Praxis erweist sich dieses System nach einer Weile als dermaßen fesselnd und intuitiv, dass man sich fragen muss, warum noch niemand darauf gekommen ist.